Japanische Märchen

  • Hallo ihr lieben,


    angesichts meines Interesses am alten Japan habe ich auch ein paar E-Books gelesen. Unter anderem war eines dabei mit japanischen Märchen. Diese haben in meinen Augen unglaublich schöne und berührende Botschaften. Und anders als deutsche Märchen haben sie eher einen lehrreichen, moralischen Charakter, statt nur dazu zu dienen, Kindern Angst zu machen vor Wald, Wölfen oder fremden Menschen. Sie vermitteln eher (japanische) Moralvorstellungen, wobei es natürlich auch Märchen mit Gruselfaktor gibt.


    Kennt jemand von Euch japanische Märchen oder besteht interesse daran? Ich könnte sicher zwischendurch mal meine Lieblingsmärchen abtippen und hier einstellen.

    Bitte nimm meine Worte so wie ich sie schreibe. Bei Unklarheiten frag nach. Danke!

  • Hallo Sandra


    Danke für den Hinweis. Japanische Märchen kenne ich leider nicht.


    Aus meiner Warte haben alle Märchen einen Moral. Sie alle wollen , der jeweiligen Kultur entsprechend ausgestaltet, Kindern aufzeigen, was verschiedene Verhaltensweisen auslösen können und dass aus vermeintlichem Pech und Unglück mit Fleiss und Ausdauer gute Resultate möglich sind. Bisher kenne ich vor allem Deutsche, russische, slawische und orientalische Märchen.


    In den russischen und slawischen Märchen, die ich kenne, geht es oftmals auch sehr grausam und magisch zu.


    Der tiefere Sinn ist allerdings in der Regel überall gleich.

    Veränderung ist sexy! Also ist das Leben an sich sexy, denn es ist Veränderung in jedem Moment! Der Weg ist Sinn und Ziel!

  • Liebe Heidy, vom Grundsatz her gebe ich dir natürlich Recht. Allerdings gibt es je nach Kultur dennoch signifikante Unterschiede. Ich habe zum Beispiel auch orientalische Märchen gelesen und da ging es in den meisten Fällen um Reichtum, Liebe und untreue Frauen. In deutschen Märchen geht es fast immer um eine Hexe die jemanden verzaubert oder verflucht und es spielt fast immer alles im Wald. Japanische Märchen sind da wieder ganz anders. Aber natürlich mag das auch daran liegen, dass ich mich sehr mit der japanischen Denkweise verbunden fühle und sie mich daher vielleicht anders berühren. Was mir aber noch auffällt ist, dass es scheinbar unterschiedliche Zielgruppen gibt. Deutsche Märchen sind in den meisten ganz klar als verbale erhobene Zeigefinger für Kinder zu sehen. Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, die sieben Geißlein... Aber dann gibt es eben auch Märchen für Erwachsene. König Drosselbart ist da ein gutes Beispiel finde ich. Und die Japanischen Märchen richten sich meines Empfindens nach auch hauptsächlich an Erwachsene.

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  • Ich beginne dann gleich mal mit einem meiner Lieblingsmärchen aus Japan, das es natürlich wie so oft in etwas unterschiedlichen Varianten gibt. Ich erzähle sie frei nach der Variante, wie ich sie einmal von einer Japanerin selbst gehört habe. Den Begriff "Tengu" habe ich unten unter dem Text erklärt.


    Der Tanz der Tengu

    Es lebten einmal in einem kleinen Dorf zwei Bauern. Sie waren keine hübschen Männer, denn sie hatten beide eine dicke unansehnliche Warze im Gesicht. Der eine rechts und der andere links. Doch diese Gemeinsamkeit hatte die beiden zu jahrelangen guten Freunden gemacht und letztlich sogar zu Nachbarn. Eines Tages sagte der eine Bescheid, dass er in den Wald ginge, um Reisig und Brennholz zu sammeln. Sie verabschiedeten sich und verabredeten sich für den Abend zu einem gemeinsamen Essen. Als der Bauer so durch den Wald zog, mit dem Blick ganz und gar auf den Boden gerichtet, merkte er nicht, dass über ihm finstere Gewitterwolken heran zogen. Erst als er das Krachen des ersten Donners hörte, überkam ihn große Sorge. Es war ein weiter Weg nach Hause und er würde gewiss schrecklich nass werden und er konnte doch nicht riskieren, krank zu werden. Also suchte er sich eilig einen Unterschlupf und fand einen Felsversprung, beinahe wie einen Höhleneingang. Kaum hatte er sich dort verborgen, brach ein starkregen los und Blitz und Donner zerrissen den Himmel. Das Unwetter dauerte lange und als es endete, war es bereits finster. Nur der Mond schien noch in den Wald und erleuchtete die kleine Lichtung die vor dem Felsvorsprung lag. Der Bauer wusste sicher, dass er sich verirren würde, wenn er versuchte jetzt den Heimweg zu finden. Also beschloss er die Nacht wohl oder übel hier zu verbringen. Doch die vielen Geräusche des nächtlichen Waldes, der Ruf der Eulen und die Unwissenheit, ob sich ihm Wölfe oder gar Bären nähern könnten, ließen ihn kein Auge zu tun. Mit der Zeit jedoch wurden ihm die Augen schwer und er verfiel in einen leichten Schlummer. Doch plötzlich schrak er wieder hoch. Es hatte ein Geräusch gegeben und mit wild klopfendem Herzen starrte er hinaus in den Wald. Das Geräusch näherte sich und er hörte, dass es Stimmen waren und fröhliches Lachen. Dann tauchten im Mondschein auf der Lichtung drei Gestalten auf und der Bauer bekam es mit der Angst. Es waren keine Menschen sondern drei Tengu, die da auf der Lichtung standen. Ihre Großen Augen und langen Nasen waren trotz des wenigten Lichts gut zu erkennen. Sie unterhielten sich und wirkten vernügt und dann rief einer plötzlich aus "Lasst uns tanzen!" Die anderen stimmten sofort zu und die drei fassten sich an den Händen. Kurz darauf sprangen sie wild im Kreis und riefen im Tank reihum "Ein Tengu - zwei Tengu - drei Tengu - ...... - Ein Tengu - zwei Tengu" Doch dann hörte man einen von ihnen Jammern und sie hörten auf zu tanzen. "Immer trittst du mir auf die Füße!" Worauf der andere sich empörte "Es fehlt der Platz, unser Kreis ist zu eng!" und der dritte stimmte ein "Und der Text passt auch nicht! WIr können den Vier-Tengu-Tanz nicht tanzen, wenn wir nur drei sind." So standen sie da und überlegten, während der Bauer in der Dunkelheit hockte und nicht glauben konnte, was er da sah. Doch in seiner Neugier wurde er unvorsichtig, und weil er mehr sehen wollte, kroch er langsam vowärts. Doch ein kleiner Zweig brach unter seinem Gewicht und das Knacken hallte durch die Nacht. Sofort wurden die Tengu auf ihn aufmerksam und standen im nächsten Moment auch schon neben ihm. "Sag was bist du denn? BIst du auch ein Tengu?" "Ach Unfug, er kann kein Tengu sein. Seine Haut ist viel zu blass und seine Nase viel zu klein." So zankten zwei der Tengu, doch der dritte guckte nur neugierig und fragte. "He du, kannst du tanzen?" Vor Angst fast gelähmt konnte der Bauer nur nicken. Sogleich packten sie ihn an den Armen und zogen ihn auf die Lichtung. Sie zeigten ihm den Vier-Tengu-Tanz und erklärten ihm den Text. Dann fassten sie ihn an den Händen und begannen zu tanzen. Der arme Bauer fürchtete sich schrecklich und gab sich größte Mühe bloß nichts falsch zu machen. Doch mit der Zeit fing es sogar an ihm Spaß zu machen und sie tanzten weiter und weiter bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte. "Das war großartig!" jubelten die Tengu. "Du hast wundervoll getanzt. Fast wie ein richtiger Tengu. Wir hatten viel Spaß mit dir. Sag, können wir dir einen Wunsch erfüllen?" Der Bauer zögerte erst, doch als die Tengu ihm versicherten, dass er sich wirklich etwas wünschen durfte, fragte er zögerlich ob sie ihm die Warze nehmen könnten. Die drei lachten "Nichts einfacher als das!" Er spürte ein leichtes Kribbeln auf der Wange und als er sie befühlte, war die Warze verschwunden. Er dankte den Tengu von ganzem Herzen und da schon der Morgen dämmerte, verabschiedeten sie sich und er trat den Heimweg an. Daheim wurde er von seinem Nachbarn und Freund voll Sorge begrüßt, da dieser die ganze Nacht auf ihn gewartet hatte. Dann plötzlich wurden seine Augen groß, denn er hatte gesehen, dass die Warze verschwunden war. Er fragte seinen Freund und dieser zog ihn in das Haus, und erzählte ihm flüsternd die ganze unglaubliche Geschichte. Doch sein Freund schaute ihn finster an. "Ich dachte wir teilen unser Schicksal! Ich habe immer zu dir gehalten, weil du die gleichen Probleme hattest wie ich. Wie kannst du mich jetzt so schändlich belügen und mir so eine Geschichte auftischen? Schämen solltest du dich!" Und obwohl ihm versichert wurde, dass es die Wahrheit war, stürmte der Bauer wütend aus dem Haus. Er nahm sich vor kein Wort mehr mit seinem Nachbarn zu sprechen, und das tat er auch nicht. Die Tage, Wochen und letztlich Monate gingen ins Land und es herrschte weiter eisiges Schweigen. Selbst als sein Nachbar zu ihm kam und sagte "Sieh, mein Freund, nach all den Jahren habe ich endlich eine Frau gefunden. Ich bitte dich um unserer alten Freundschaft Willen, komm zu unserer Hochzeit", lehnter er ruppig ab und verkroch sich in sein Haus. Doch mit der Zeit wuchs seine Verzweiflung und der Gedanke keimte in ihm auf, dass sein Nachbar vielleicht doch die Wahrheit gesagt haben könnte. Als er es nicht mehr aushalten konnte, schlich er sich an einem finsteren Abend in den Wald. Er suchte die Lichtung, die man ihm beschrieben hatte und wartete. Da er kein Feuer machen konnte, hatte er sich Sake mitgenommen um sich warm zu halten und als die Flasche beinahe leer war, hörte er Stimmen und Gelächter. Er wartete und kaum dass die drei Tengu auf der Lichtung erschienen waren, sprang er aus dem Gebüsch. "Schaut wer wieder hier ist, erinnert ihr euch an mich? Wir haben doch so schön zusammen getanzt." Die Tengu waren skeptisch, weil er so anders aussah, aber sie glaubten ihm, dass er nur alt geworden sei. Sie fragten ihn freundlich, ob er sich noch an den Tanz erinnerte, doch er herrschte sie nur an "Was für eine Frage, natürlich weiß ich das noch!" Also nahmen sie ihn an der Hand und begannen ihren Tanz. Doch obwohl sein Nachbar ihm damals den Tanz erklärt, ja sogar vorgeführt hatte, konnte er sich nach so langer Zeit nicht mehr genau erinnern. Und der Sake, mit dem er sich hatte warm halten wollen, machte ihn tollpatschig. Irgendwann brachen die Tengu enttäuscht den Tanz ab. "Du singst wie ein kranker Rabe!" sagte der eine und der dandere ergänzte "Und du bist mir ständig auf die Füße getreten!" "Du kannst gar nicht tanzen", bestätigte der Dritte. Darauf hin wurde der Bauer wütend. "Letztes Mal war der Tanz viel einfacher und ich war auch noch jünger! Außerdem seid ihr auch gar nicht so toll! Wisst ihr noch wie ich mir wünschte, dass ihr mir meine Warze nehmt? Sie ist wieder gekommen, seht selbst!" Und er zeigte auf seine Wange. Die Tengu guckten ihn an und steckten dann die Köpfe zusammen. Dann verkündten sie "Normalerweise setzen wir unsere Magie für einen Menschen nie zwei Mal ein. Aber wir haben uns überlegt, dass du ein Geschenk verdient hast." und als der Tengu die Hand hob, kribbelte dem Bauern das Gesicht. Er befühlte seine Wange, doch die Warze war noch da. Er befühlte verärgert sein restliches Gesicht und zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass eine ebensolche Warze plötzlich auf seiner anderen Wange saß. Die Tengu lachten herzhaft, drehten sich um und waren im nächsten Moment im Dunkel des Waldes verschwunden.



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    "Tengu" sind japanische Wald- und Berggeister, die oft mit dunkler (zum Beispiel blauer) Haut dargestellt werden, eine lange Nase und oft auch kleine Flügel haben. Man sagt ihnen nach, dass sie zaubern können und dass sie scheu und leicht zu verärgern sind.

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  • Ein wunderschönes Märchen, das mich von der *Moral" her sehr an Frau Holle erinnert.


    Danke für das Märchen. Wenn Du Lust hast, bring doch von Zeit zu Zeit solche Gedanken ebenfalls hier ein. Es ist sehr spannend. Ich hatte einen guten Freund, der sich mit der japanischen Kultur beschäftigt hat und ab und an auch darüber berichtete.

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  • Ja, stimmt, es hat tatsächlich Ähnlichkeit mit Frau Holle. Danke dass du das angemerkt hast, es ist mir vorher nicht aufgefallen.


    Und ja ich überlege schon, wie und in welchem Umfang ich mich hier weiter einbringen kann. Aber ich denke, ab und zu ein Märchen hier herein stellen, sollte kein Problem sein.

    Bitte nimm meine Worte so wie ich sie schreibe. Bei Unklarheiten frag nach. Danke!

  • Danke, das wäre wunderschön. Ich finde es immer spannend zu sehen, wie verschiedene Kulturen ihre Weisheiten über die Welt der Märchen vermitteln. Es geht ja meist, wenn nicht immer, um zutiefst menschliche Werte und Verhalten. Gerade wenn ich mir Dornröschen z.B. ansehe, ist die Fee eigentlich nicht per se schlecht oder böse. Sie ist im Grunde nur zutiefst gekränkt und verletzt und sinnt daher auf Rache. Da der König tabu ist, wird die Verletztheit auf das Kind projiziert und das Kind soll für die Missachtung durch den Vater büssen.


    Es gibt übrigens einen Film, den ich kürzlich gesehen habe Er heisst Maleficient mit Catherine Zeta-Jones, der die Geschichte aus der Sicht der nicht eingeladenen Fee erzählt und in dem die Fee und Dornröschen sehr gute Freunde werden. Er beleuchtet sehr schön und passend die Gefühlslage der Fee und wie sich diese im Heranwachsen des Kindes verändert. Ich fand dies sehr interessant.

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  • Es gibt übrigens einen Film, den ich kürzlich gesehen habe Er heisst Maleficient mit Catherine Zeta-Jones, der die Geschichte aus der Sicht der nicht eingeladenen Fee erzählt und in dem die Fee und Dornröschen sehr gute Freunde werden. Er beleuchtet sehr schön und passend die Gefühlslage der Fee und wie sich diese im Heranwachsen des Kindes verändert. Ich fand dies sehr interessant.

    Es ist Angelina Jolie ;) Aber ja, der Film ist wunderschön! Ich finde es sehr ergreifend, wie hier eine ganz andere Seite von Maleficent beleuchtet wird. Ohnehin vertrete ich die Meinung, dass niemand 100% böse ist. Genau so wie niemand 100% gut ist. WIe ich immer so schön sage: Selbst der Dalai Lama eschlägt mal eine Mücke, wenn sie ihm nach zwei Warnungen immer noch auf die Nerven geht. Er hat dann zwar ein schlechtes Gewissen, aber er tut es dennoch. ^^


    Ich habe schon andere japanische Märchen im Hinterkopf, die ich hier mal einbringen werde. Ich muss nur schauen, wann ich die Zeit dafür habe, sie zu schreiben, da ich sie nirgendwo heraus kopieren kann und sie ohnehin lieber selbst wieder erzähle.

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  • Super! Danke für die Korrektur, habe da was verwechselt. <3 ^^

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  • Das Märchen vom Steinmetz

    Es gab einmal einen Steinmetz, der an einem Berg nahe einer größeren Stadt Steine schlug, um diese an Kunsthandwerker zu verkaufen. Tag für Tag, Jahr um Jahr schuftete er dort von Sonnenauf- bis -untergang und schleppte die Steine in das Tal. Eines besonders heißen Tages fiel ihm die Arbeit sehr schwer und er hielt inne um etwas zu trinken. Er blickte in das Tal und sah ein paar Bauern, die prüfend durch ihre Felder gingen, um nach den Feldfrüchten zu sehen. Der Steinmetz seufzte und murmelte "Ach wäre ich doch nur ein Bauer. Die müssen nicht auf den Berg klettern, nicht schwer schleppen und haben Ruhephasen während ihre Pflanzen wachsen." Plötzlich ertönte hinter ihm eine Stimme. "Sag, wünschst du dir das wirklich?" Der Steinmetz erschrak und fühlte sich belauscht, doch als er sich umkehrte, war niemand zu sehen. Er fragte, wer das gesagt hatte und die Stimme antwortete ihm "Ich bin einer der San-Jin* und ich frage dich erneut: Wünschst du dir das wirklich?" Der Steinmetz ging auf die Knie und verneigte sich und bejahte, dass dies wirklich sein Wunsch sei. "So sei es! Nun geh heim", sagte die Stimme aus dem Berg. Verunsichert suchte der Mann seine Sachen zusammen und trat den Heimweg an. Doch dort, wo seine kleine Hütte gestanden hatte, war nun ein einfaches aber ansehnliches Bauernhaus. Am nächsten Tag trat er frohen Mutes den Weg zu seinen Feldern an und freute sich, dass er seine Hände und seinen Rücken schonen konnte. Doch während er den Blick hob und sich streckte, sah er einen Händler, der in einer Sänfte vorbei getragen wurde. "Ein wohlhabender Kaufmann müsste man sein. Man müsste nicht mehr hart arbeiten, hätte ein schönes Haus, Diener die einem alle Lasten abnehmen und man könnte durch die Stadt ziehen, ohne überhaupt laufen zu müssen." Aus dem HIntergrund ertönte zu seiner Verwunderung erneut die körperlose Stimme. "Sag, ist das wirklich dein Wunsch?" Diesmal musste der Mann nicht mehr allzu lange überlegen, denn er wusste, wenn ihm einmal ein Wunsch gewährt worden war, so würde es auch wieder gelingen. Er bestätigte dem San-Jin seinen Wunsch und wie zuvor hörte er ihn sagen "So sei es! Nun geh heim." Gut gelaunt und in freudiger Erwartung ging der Mann heim und fand anstelle seines Bauernhauses ein schönes Stadthaus vor und zwei Diener, die schon auf ihn warteten. "Ich hatte ein größeres Haus erwartet, aber es ist sehr schön und für mich alleine ist mehr als genug Platz. Nun werde ich gewiss glücklich werden." Am nächsten Tag ließ er sich in einer Sänfte durch die Stadt tragen, kaufte sich hier und da ein paar Dinge, die er sich vorher nicht hatte leisten können und genoss seine freie Zeit. Doch zum Nachmittag hin wurde es immer heißer und als er sich Luft zufächerte und sich den Schweiß von der Stirn wischte, blickte er zum Himmel und hatte eine Idee. "He, San-Jin, sag hörst du mich? Kannst du mich auch in die Sonne selbst verwandeln?" Und die Stimme sagte "So es dein Wunsch ist, will ich dir auch diesen erfüllen." Und kaum war dieser Satz gesagt, spürte der Mann eine Leichtigkeit in sich, wurde aus der Sänfte gehoben und gen Himmel getragen, wo er als die Sonne auf alles Leben hinab blickte. "Das ist ganz wundervoll! Nichts schmerzt mir mehr und mir ist nicht mehr warm. Ich will der Natur gutes tun und ihnen viel von meinem Licht spenden, auf das alles wachsen und gedeihen soll." Und als er so auf die Felder schien, lachte er leise über die kleinen Menschen, die ächzend vor ihm Schutz suchten, denn er hatte vergessen, wie es sich anfühlte in der HItze zu arbeiten. Und während er versuchte, mit seinen Strahlen auch den kleinsten Winkel zu erleuchten und alles Dunkel zu vertreiben, kam eine Wolke daher und schob sich ihm in den Weg. Er versuchte noch stärker zu strahlen, doch die Wolke hielt ihm stand und schirmte die Welt ab vor seinem Licht. "Diese Wolke beeindruckt mich. Sie lässt sich nicht einmal von der Sonne beeindrucken. He, San-Jin, mach mich zur Wolke!" Auch dieser Wunsch wurde ihm gewährt und als er auf die Welt hinab sah, sah er die Erleichterung der Menschen, die sich über den Schatten freuten. "Unsere armen Felder. Wenn es doch nur regnen würde", hörte er einen Bauern sagen. Und als er es probierte, fing er tatsächlich an zu regnen. Der trockene Boden trank das Wasser voll Gier und die Menschen kühlten sich ab und dankten ihm. Doch dann sah er einen Mann, der hektisch davon rannte, um dem Regen zu entfliehen. Von Übermut gepackt, ließ er es stärker regnen und lachte, als die Menschen wie kleine Ameisen über die Straßen in ihre Häuser rannten. Doch dann fiel sein Blick auf den Berg. "He, der Berg stört sich gar nicht an meinem Regen. Er steht einfach trotzig da, rührt sich nicht, ächzt und klagt nicht. Jetzt habe ich die Idee! He, San-Jin, ich will der Berg sein!" Und kaum hatte er zu Ende gesprochen fiel er aus dem Himmel und fand sich als Berg wieder. Er lachte hinaus zu den Regenwolken und der Sonne und selbst der stärkste Wind, der um seinen Gipfel tobte, konnte ihn nicht erschüttern. Er war sich sicher, jetzt die komfortabelste und sicherste Position auf der Welt zu haben. Doch als er so in den Himmel sah, hörte er ein leises Geräusch. Klick Klick.... Klick klick.... klick klick.... Verwundert suchte er nach der Quelle und fand keine Naturgewalt und kein Tier, dass dieses Geräusch verursachte. Doch dann, hinter einem seiner Felsvorsprünge sah er einen kleinen Menschen mit Werkzeug in der Hand. "Da stehe ich hier als majestätitischer Berg. Weder Sturm noch Sonne noch Unwetter können mir etwas anhaben. Kein Tier kann mich kratzen und keiner kann mich verschieben. Doch dieser kleine Mensch haut einfach Stücke aus mir heraus! Ich muss schon sagen, ich bin beeindruckt. He, San-Jin, hörst du mich? Du hast mir bisher jeden Wunsch erfüllt und mich zuletzt sogar in einen mächtigen Berg verwandelt. Aber dieser Mensch dort ist mächtiger als Sonne und Regen und sogar mächtiger als der Berg. Ich will an seiner Stelle sein!" Und San-Jin erfüllte ihm auch diesen Wunsch und der Mann fand sich wieder als Steinmetz am Hang des Berges. Er schlug Steine aus dem Berg und grinste über die Macht, die er hatte. Am Abend kehrte er in seine kleine Hütte ein und beklagte sich ab diesem Tag nie wieder über das, was er war.



    *San-Jin - 山神 - namenloser Berggott

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  • Danke liebe Sandra für diese wunderschöne Geschichte!


    Sie zeigt mir auf, dass alles, was ich bin, richtig ist, so wie es ist. Das weltlich Erscheinende, dessen Gefäss ich bin, ist veränderbar, mein wahres SEIN ist immer das, was es war, was es ist und wird es auch immer sein.


    Niemals kann ich meinem wahren SELBST entrinnen, ich kann nur zu ihm finden und mich mit ihm identifizieren. Mein scheinbares ICH spiele ich im Drehbuch meines Lebens, ich bin es aber nicht - auch wenn es mir manchmal schwer fällt, dies zu glauben.


    Wenn ich als "Steinmetz" erschaffen wurde, kann ich wohl scheinbar andere Rollen spielen, am Ende werde ich jedoch stets erkennen müssen (dürfen), dass ich eben "Steinmetz" bin - und nichts anderes!

  • Ich denke es gibt viele Wege, wie man dieses Märchen interpretieren kann. Deine Ansicht ist eine, die ich wirklich sehr schön finde. Und ich denke auch, dass jeder von uns einen spezifischen "Platz" in dieser Welt hat und wir lernen müssen, dies zu erkennen und zu akzeptieren. Vor allem, wenn wir möglicherweise immer wieder versuchen, etwas anderes zu sein. Ich kenne das aus eigener Erfahrung und arbeite seit einiger Zeit daran, meinen wahren Platz einzunehmen.


    Allerdings sehe ich in diesem Märchen auch eine andere Aussage, die mir viel bedeutet: Man kann immer nach "mehr" streben, nach dem was "besser" ist oder zumindest zu sein scheint. Aber der Weg zum GLück besteht meiner Meinung nach darin, zufrieden zu sein mit dem, was man hat. Ich wäre auch lieber reich und würde in einem großen Haus leben und regelmäßig reisen. Aber dieses Leben ist mir (im Moment) nicht gegeben. Also versuche ich glücklich zu sein mit dem, was ich habe. Es ist die (teils qualvolle) Lektion zu der Erkenntnis, dass unser Unglück meist daraus stammt, dass wir uns mit anderen vergleichen.

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  • Wenn ich zufrieden bin, mit dem, was ich BIN, bin ich auch zufrieden mit dem, was ich HABE. Mehr noch, es erwächst daraus eine tiefe Dankbarkeit und die Tendenz, sich mit anderen zu vergleichen, löst sich im NICHTS auf.


    Nicht, dass ich diese Fähigkeit in meinem Leben etwa schon erreicht hätte, so ist es nicht zu verstehen. Aber tief in meinem Inneren spüre ich, dass hierin die WAHRHEIT liegt und der tiefe, innere Frieden, der durch nichts im Aussen zerstört werden kann.

  • Danke liebe Sandra., auch das ist ein wunderschönes Märchen. Ich liebe diese Art der Märchen und von den Gebrüdern Grimm gibt es eine Entsprechung: Vom Fischer und seiner Frau


    Hier ist es allerdings so, dass der Fischer ganz zufrieden ist mit seinem Leben. Seine Frau Ilsebill allerdings hat da ganz andere Wünsche und Vorstellungen. Sie waren ganz einfache Leute und der Mann war als Fischer glücklich. Eines Tages fing er einen Butt und der Butt redete mit ihm und bat ihn, ihn wieder frei zu lassen, da er ein verwunschener Prinz sei. Abends fragte seine Frau, ob er nichts gefangen habe und er erzählte ihr von dem Butt. Seine Frau meinte, was er doch für ein dummer Kerl sei. Er hätte sich doch etwas wünschen sollen. Am nächsten Morgen schickte sie den Mann ans Meer und verlangte, dass er sich vom Butt ein Schloss wünschen sollte, da sie nicht mehr in dem unbequemen Topf (Hütte) wohnen wolle. Der Mann folgte ihr, ging ans Meer und sagte: " Mantje, Mantje Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, Meine Frau die Ilsebill will nicht so, wie ich wohl will.


    Der Butt fragte: Na, was will sie denn?


    Der Fischer sagte: Sie will in einem Schloss wohnen.


    Der Butt antwortete: Geh nur hin , sie hat es schon.


    Als der Mann heim kam, war da kein Fischerhäuschen mehr, sondern ein Schloss. Frau Ilsebill erkannte allerdings schnell, dass es anderen noch besser ging und sie nie alles tun konnte, was sie wollte. So schickte sie ihren Mann immer wieder zum Butt und wollte nacheinander König, Kaiser, Papst und zuletzt sogar Gott sein. Der Mann folgte widerwillig allen Wünschen seiner Frau. Das Meer wurde dabei immer stinkender und kaputter. Jedes Mal sprach der Mann seinen Spruch und der Butt erfüllte den Wunsch.


    Als Frau Ilsebill aber Gott sein wollte, sagte der Butt: Geh nur hin, sie sitzt wieder in ihrer alten Hütte. Der Fischer ging wieder nach Hause, das Meer wurde wieder gesund und Frau Ilsebill sass wieder zufrieden in Ihrer alten Hütte. Sie hatte erkannt, dass ihr beschauliches Leben voller Kraft und sie hier am rechten Platz sei. In all den anderen Rollen hatte sie sich nie richtig wohl gefühlt.


    Wer gern das Originalmärchen lesen möchte, findet es z.B. hier.

    Veränderung ist sexy! Also ist das Leben an sich sexy, denn es ist Veränderung in jedem Moment! Der Weg ist Sinn und Ziel!

  • Heidy, das Märchen hatte ich ganz vergessen! Danke für die Erinnerung :) Und ja, es ist wirklich sehr ähnlich! Da kann man mal sehen...

    Bitte nimm meine Worte so wie ich sie schreibe. Bei Unklarheiten frag nach. Danke!

  • Märchen haben uns unendlich viel zu sagen, wenn wir bereit sind, zu zu hören. Ich liebe das.


    Ein Freund von mir hat sich sehr mit Japan und seiner Kultur beschäftigt und viele Übereinstimmungen, vor allem in der Sprache und ihrem Gebrauch zwischen Japan und dem deutschsprachigen Raum gefunden. Er hat mir dann immer seine Erkenntnisse erzählt. Er hat auch mehrere Jahre Unterricht in japanisch genommen und so auch die Schrift gelernt. Hochinteressant.

    Veränderung ist sexy! Also ist das Leben an sich sexy, denn es ist Veränderung in jedem Moment! Der Weg ist Sinn und Ziel!